Geschichte
Vorgeschichte
Als 1814 die Truppen Napoleons nach acht Jahren Besatzung aus Hamburg vertrieben wurden, hinterließen sie im wahrsten Sinne verbrannte Erde. Für ein freies Schussfeld gegen die heranrückenden russischen Truppen, wurden auf französischen Befehl hin sämtliche Siedlungen im Umkreis der Hamburger Festungsmauern in Brand gesteckt, darunter auch rund 900 Häuser und Buden, die Kirche und der Krankenhof auf dem sogenannten Hamburger Berg. Doch was zunächst ausgesehen haben muss wie das Ende der Geschichte jener Region zwischen den Städten Hamburg und Altona, entpuppte sich als Anfang einer rasanten Entwicklung. Das bisher spärlich bebaute Gebiet wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten des regen Wiederaufbaus von einer ländlichen Peripherie zum großstädtischen Viertel. Zu Beginn der 1820er Jahre war der vorherige Zustand nicht nur wieder erreicht, sondern „sehr vergrößert und verschönert“, wie Friedrich K.J. Schütz in einem 1827 erschienenen „Hand- und Hülfsbuch für Einheimische und Fremde“ beschrieb. Auch die Bevölkerungszahl stieg rasch an, denn innerhalb der Hamburger Stadtmauern wurde für die mittlerweile 130.000 Menschen der Wohnraum knapp, weshalb die Flächen außerhalb zunehmend bebaut wurden. So „erwachte in St. Georg gegen Ende der 20er Jahre eine Baulust“ an der auch „der Hamburger Berg seinen Anteil an ganzen Häuserreihen erhielt“, so der Chronist E. H Wichmann 1879.
Die wachsende Bedeutung der Vororte steigerte nicht nur das Interesse betuchter Kaufleute am Erwerb von Grundstücken außerhalb des Walles, sondern auch die selbstbewussten Forderungen der neuen Grundeigentümer oder der Inhaber zunehmend florierender Amüsierbetriebe nach einer rechtlichen Gleichstellung mit den Hamburger Bürgern. Am 6. November 1833 war eine wichtige Marke auf dem Weg dahin erreicht: Der Hamburger Berg wurde als Vorstadt unter die Verwaltung Hamburgs gestellt und erhielt seinen offiziellen Namen St. Pauli. Straßen wurden gepflastert und beleuchtet, die Häuser nummeriert – doch für die Bewohner brachte der neue Status mehr Pflichten als Rechte. Zwar wurde ihnen theoretisch das Bürgerrecht eingeräumt, doch kaum einer der dort Ansässigen war finanziell in der Lage, das Bürgergeld zu entrichten oder besaß ein Grundstück, um als „reglementsmäßig erbgesessenen Stadtbürger“ an den Sitzungen der Erbgessenen Hamburger Bürgerschaft teilzunehmen – allerdings ohne jegliches politisches Mitspracherecht. Pflichten gab es hingegen reichlich, vor allem den Dienst im Bürgermilitär und die Entrichtung aller „Steuern und Abgaben, wie sie jetzt bestehen und künftig zwischen einem ehrbaren Rat und der erbgesessenen Bürgerschaft beliebt und bewilligt werden [...],“ so eine 1838 für St. Pauli eingeführte Nachtwächtersteuer. An der benachteiligten Lage vor dem Millerntor, das zugleich eine Zollgrenze war, änderte sich nichts. Handwerkserzeugnisse mussten nach wie vor verzollt werden, ehe sie nach Hamburg gelangten und nach Einbruch der Dunkelheit ) wurde eine Gebühr fällig, ehe man das Tor passieren konnte.
Nicht nur die Bewohner der Vorstädte waren mit den ungleichen Machtverhältnissen unzufrieden. In ganz Hamburg gärte es, denn mit dem letzten napoleonischen Soldaten waren auch die liberalen Maxime des Code Civil aus den Stadttoren marschiert, jener auf den Prämissen der französischen Revolution, nämlich „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“- fußenden, modernen Verfassung. In Hamburg kehrte man mit der Inkraftsetzung der Verfassung von 1712 rasch wieder zum alten System zurück, das aber dem Gros der Bürger kein Mitbestimmungsrecht einräumte Weil ein Grundbesitz innerhalb der Festungsmauern die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur „Erbgesessenen“, mit politischer Macht ausgestatteten Bürgerschaft war, blieben Arbeiter, Tagelöhner, Lehrlinge und praktisch das gesamte Kleinbürgertum vom Mitspracherecht ausgeschlossen. Am Vorabend der 1848er Revolution entschieden nur zwei- bis dreihundert Hamburger „Erbgesessene“ über die Geschicke ihrer 150.000 Mitbürger.
Angefacht von der Julirevolution 1830, wurden die Forderungen nach einer neuen Verfassung immer lauter und vehementer - den Umbruch leitete aber kein Aufstand, sondern ein verheerendes Unglücke: Der große Brand von 1842. Binnen von drei Tagen war fast ein Drittel der Innenstadt vernichtet, mehr als 50 Menschen tot und rund 20.000 (von 160.000) obdachlos. Dass das Feuer so katastrophal wüten konnte, lag nicht allein an der dichten Bebauung mit Holzhäusern und den viel zu engen Gassen. Auch nicht an der unzureichenden Zahl an Löschkräften, dazu mit unzureichender Ausrüstung. Weil der Senat im Interesse der Kaufleute zu lange gezögert hatte, um Kontor- und Handelshäuser zu Brandschneisen sprengen zu lassen, hatten viele ihr Dach über dem Kopf verloren. Dass die Ordnungskräfte Plünderungen am helllichten Tag machtlos gegenüberstanden, wurde als Ausdruck der Ohnmacht städtischer Obrigkeiten gewertet. Darüber hinaus zeigte sich bald, dass der Senat keine Anstalten hatte, die Feuerwehr zu modernisieren – dass sich nichts nach der Katastrophe ändern, sondern alles beim alten bleiben sollte. Für die St. Paulianer wurde es sogar teurer als bisher, da die Grundsteuer dort, im Gegensatz zu den anderen Vorstädten und der inneren Stadt, um 50% enorm angehoben wurde. In dieser Situation wurden die Forderungen nach einer neuen Verfassung lauter und massiver.
Die Gründung des St. Pauli Bürgervereins
Am 8. März 1843 griff man in der Vorstadt St. Pauli zur Selbsthilfe, als „zwölf wohlgeachtete Bürger [...] in einem abgelegenen Landhaus an der Heerstraße“ den St. Pauli Bürgerverein gründeten. WEITERE BÜRGERVEREINE, VORLÄUFER POLITISCHER PARTEIEN. (Ergänzung nicht notwendig)
Aus der Vereinssatzung von 1849 lässt sich herauslesen, was der Verein als seine Aufgaben betrachtete- oder anders gelesen, wo es Notwendigkeiten gab, die aus den Versäumnissen städtischer Obrigkeiten resultierten: „Gemeinnützige Unterhaltung, Besprechung bürgerlicher Angelegenheiten, Beratung über auf gesetzlichem Wege zu erlangende Abhülfe bestehender Mängel und zur Beseitigung der dem Bürgerwohl sich entgegenstellender Hindernisse“ gehörte zum Basiszweck des Vereins. Dazu gehörte, sich für eine bessere Straßenbeleuchtung einzusetzen ebenso wie die Unterstützung einer neu zu errichtenden sogenannten Warteschule, in der Arbeiter- oder Tagelöhner-Kinder stundenweise betreut wurden. Von Beginn an betrieb der Verein eine Leihbibliothek, die von jedem Mitglied unentgeltlich genutzt werden konnte.
Die Mitgliedschaft stand „jedem Einwohner und Bürger St. Paulis“ offen, der „als rechtlicher [rechtschaffener] Mann bekannt ist, kein unehrenhaftes Geschäft treibt und durch sittliches Betragen sich für eine anständige Gesellschaft eignet.“ Erster Präses in der Vereinsgeschichte wurde der erst 33 Jahre alte Kaufmann Matthias Mahlandt.
Mahlandt (1809-1873) handelte mit Farben, Gewürzen und Salz. Während seiner Dienstzeit beim Hamburger Bürgermilitär avancierte er 1838 zunächst zum Kapitän, ein Jahr später zum Major des 8.Bataillons. Parallel zu seiner Amtszeit als Vorsitzender des St. Pauli Bürgervereins fungierte er ab 1845 als Adjunkt, ab 1852 als Vorsteher der St. Pauli-Kirche. Darüber hinaus gehörte Mahlandt bis 1850 der Hamburger Konstituante an, später war er Mitglied der Bürgerschaft. (Konstituante erläutern)
Trotz hehrer Ziele: Die Arbeit des Vereins verlief in den ersten paar Jahren seines Bestehens eher schleppend. Einer, der durch sein Engagement in der Frühzeit des Vereins hervorstach, war Johannes Andreas Versmann. Der junge Anwalt aus St. Pauli war seit 1845 Mitglied des Bürgervereins und wurde 1846 in den Vereinsvorstand gewählt.
Johannes Andreas Versmanns (1820-1899) Vater war Inhaber der Einhorn- Apotheke auf St. Pauli. Seine Vorfahren gehörten keiner alteingesessenen Hamburger Familie an, sondern stammten aus Uelzen. Seine Kindheit verbrachte er in der Vorstadt St. Pauli, wo er die Knabenschule des Herrn Stübe besuchte. Später war er erfolgreicher Gymnasiast des Christianeums in Altona, studierte dann in Jena Medizin und in Göttingen Rechtswissenschaften. Während seiner Studentenzeit schloss er sich in Jena verbotenerweise einer patriotischen Verbindung, der „Burschenschaft auf dem Fürstenkeller“, an – ein Entschluss, dem er die „Erweckung oder Verstärkung seiner nationalen Gesinnung und seines patriotischen Pflichtgefühls verdankt.“ Geprägt von revolutionären Ideen, kehrte Versmann 1844 in seine Vaterstadt zurück und fand, dass „hier das öffentliche Leben ein wenig stagniere“. Er erwarb, da nun Advokat, das Hamburger Bürgerrecht und eröffnete eine bald gut gehende Kanzlei auf St. Pauli. Nach seinem Beitritt zum Bürgerverein fiel dem engagierten Anwalt zunehmend „die Rolle eines allgemeinen Vertrauensmannes in der Vorstadt zufiel, sodass die Grundeigentümer und Kleidermacher der Reeperbahn, die Vereinigten Gewürzkrämer von St. Pauli, die Bewohner des Pinnasberges, die konzessionierten Schlachter von St. Pauli ihre Angelegenheiten durch ihn vertreten ließen.“
Doch Versmanns Wirkungskreis ging über St. Pauli hinaus. Angetrieben vom Wunsch nach politischen Veränderungen, agierte er neben dem St. Pauli Bürgerverein noch an weiteren Konzentrationspunkten liberaler Gesinnungen wie in der Patriotischen Gesellschaft und dem Juristenverein.
Die Herausforderungen des 19. Jahrhunderts
1848 brachten die Forderungen liberaler Bürgervereine in Kombination mit den (nicht unbedingt deckungsgleichen) Zielen der proletarischen Vorstadtbewohner den Umschwung. Angeheizt von den Nachrichten über eine erneute Revolution in Paris, kippte die ohnehin schon angespannte Stimmung zu allererst in der Vorstadt St. Pauli, dessen Bewohner wegen der Zollgrenze nach Hamburg wirtschaftlich besonders benachteiligt waren. Am 13. März brach am Millerntor ein Tumult mit rund 1.000 Beteiligten aus, die die Abschaffung der Torsperre forderte. Nur mit Waffengewalt gegen die unbewaffneten St. Paulianer brachte das Bürgermilitär die Lage unter Kontrolle – und dabei den Maurermeister Beneke ums Leben. Es folgten Unruhen in St. Georg, außerdem drohten Hungerrevolten, denn die Versorgungslage der Bevölkerung hatte sich nach Ausbruch des deutsch-dänischen Krieges drastisch verschlechtert.
Auf Druck der Vereine und aus Angst vor einer Revolution, lenkte die Hamburger Regierung ein und zeigte sich reformwillig. Die Pressezensur wurde abgeschafft, kurz danach erschien die „Reform“, das Kommunalblatt des St. Pauli Bürgervereins, als eine der ersten neuen Zeitungen in Hamburg.
Ansonsten brachte die Arbeit der von Senat und Erbgesessener Bürgerschaft einberufenen „Reformdeputation“ wenig Nennenswertes und die Bevölkerung blieb unzufrieden. Nach erneuten schweren Unruhen am Steintor, übten vor allem die Bürgervereine massiven Druck aus. Ihr klar formuliertes Ziel: eine demokratisch gewählte, verfassungsgebende Versammlung nach dem Vorbild der im April 1848 erstmals abgehaltenen Frankfurter Nationalversammlung. Am 18. August willigte der Rat in die Bildung der „Hamburger Konstituante“ ein, in die mit Mahlandt und Versmann (nach dessen Rückkehr aus Krieg gegen Dänemark), zwei Mitglieder des St. Pauli Bürgervereins gewählt wurden. Später übernahm Versmann zeitweise auch die Präsidentschaft der Konstituante. Am 11. Juli 1849 trat die von der Konstituante erarbeitete neue Hamburger Verfassung in Kraft. Zentraler Punkt: Es ist eine demokratische Verfassung, in der alle Staatsgewalt von den Staatsbürgern entweder unmittelbar oder mittelbar durch verfassungsmäßig gewählte Vertreter ausgeübt wird.
Im Sommer 1848 beschloss die Frankfurter Nationalversammlung als erstes gemeinsames (nationales) Großprojekt die Schaffung einer deutschen Reichsflotte, um den Krieg gegen Dänemark zu gewinnen. Das erstarkte Selbstbewusstsein der Vorstadtbürger zeigte sich darin, dass auf St. Pauli für die Finanzierung eines Kanonenbootes 120.000 Mark Courant gesammelt wurden, von denen 600 Mark vom Bürgerverein stammten. So beteiligten sich die Bürger St.Paulis an der „nationalen „Aufgabe.
Am 29. Juli 1848 lief „nachmittags um 4 Uhr auf der Werft des Herrn Marbs das erste Hamburger Kanonenboot, getauft ‚St. Pauli‘ vom Stapel, in Gegenwart städtischer Behörden, vieler Offiziere der Bürgergarde [...] und der jungen Deutschen Marine. Eine sehr zahlreiche Menschenmenge war durch das neue Schauspiel herbeigezogen worden, welches sich durch die jubelnde Teilnahme derselben zu einem wahren Volksfeste gestaltete“, so die Rigasche Zeitung am 7. August 1848. Zusammen mit drei Raddampfern und zwei Seglern, Leihgaben Hamburger Kaufleute, bildete das Kanonenboot die „Hamburg Flottille“ und wurden gegen die dänische Blockade an den nordfriesischen Inseln in Stellung gebracht. Militärischer Ruhm blieb der „St. Pauli“ jedoch versagt, denn sie kam bis zum Kriegsende 1851 nicht zum Gefechtseinsatz. 1852 wurde die Reichsflotte aufgelöst und deren Schiffe, darunter das Kanonenboot „St. Pauli“ von Bundeskommissar Hannibal Fischer versteigert.
Die Errungenschaften der 48er Revolution wurden in Hamburg mit der Abschaffung der Konstituante 1850 beseitigt. Die Stadt war bereits seit August 1849 preußisch besetzt, nachdem es in Altona und St. Pauli zu Ausschreitungen gegen ein preußisches Batallion gekommen war. Für die Impulsgeber der Revolution brachen unter der reaktionären, preußischen Verwaltung schwere Zeiten an.
Die Presse wurde wieder massiv eingeschränkt und Blätter wie die „Reform“ verboten. Auf die Tätigkeit der Vereine wurde besonderes Augenmerk gelegt und jegliche politische Betätigung wurde verboten. Durch eine geschickte Hervorhebung der Bildungs- und sozialen Aufgaben in den Statuten des Vereins konnte ein solches Verbot zwar verhindert werden, dennoch war bei jeder Sitzung mit der Anwesenheit von Polizei zu rechnen, die „befugt war, in Versammlungen, in denen öffentliche Angelegenheiten erörtert oder beraten werden sollen, auch wenn diese nicht öffentlich gehalten werden, einen oder mehrere Angestellte zugegen sein zu lassen.“ Außerdem stand es „der Polizei-Behörde frei, die Anwesenden nötigenfalls mit Zuziehung der bewaffneten Macht, zu entfernen.“ Fortan erschien mindestens ein Beamter zu den Sitzungen des St. Pauli Bürgervereins. Einer davon berichtete im Januar 1855: „Ich habe die Mitglieder in einer gefälligen Unterhaltung vorgefunden, es war dort eigentlich von politischer Unterhaltung keine Rede. [...] allerdings hat er sich dann und wann mit Fragen in Bezug auf das Wohl der Vorstadt St. Pauli beschäftigt, allein das waren immer kommunale Angelegenheiten.“
Am 28. September 1860, zwölf Jahre nach der 48er Revolution, trat endlich auch in Hamburg eine reformierte Verfassung in Kraft. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden die Ratsmitglieder (der heutige Senat) nicht mehr durch Eigen-, sondern durch Bürgerschaft (zuvor die Erbgesessenen)-Wahlen bestimmt.
Mit seiner Wahl in den Senat 1861, gehörte Johannes Versmann zu den ersten, die in die neue Regierung berufen wurden. Ab 1865 war er dort vor allem für Zollfragen zuständig – ein Thema, das auch bei den Sitzungen des Bürgervereins häufig auf der Tagesordnung stand, denn immer noch mussten Waren aus St. Pauli bei ihrer Einfuhr nach Hamburg am Millerntor verzollt werden. Zum Jahreswechsel 1868/69 fielen nach langen Verhandlungen die Torsperren und die Zollgrenze nach Hamburg war damit aufgehoben.
Die Frage, ob Hamburg dem von Preußen dominierten deutschen Zollverein beitreten sollte, wurde in den 1870er Jahren auch im St. Pauli Bürgerverein diskutiert. 1878 veröffentlichte die „Reform“ die offizielle Haltung des Vereins: Man unterstützte die Politik ihres einflussreichsten Mitgliedes, Senator Versmanns, indem man sich für den von ihm vorgeschlagenen Kompromiss aussprach und sich „für die Beibehaltung der Freihafenstellung erklärt und nach Kräften für eine Beseitigung der den Absatz nach dem Binnenlande hemmenden Zollschranken wirken will.“
1881 gelang Versmann das für unmöglich gehaltene: In zähen, geschickten Verhandlungen hatte er Bismarck das Zugeständnis abgefordert, in Hamburg auch nach dem Beitritt eine zollfreie Zone ein zurichten – die spätere Speicherstadt. 1887 stellte der Bürgerverein mit Johannes Versmann den Bürgermeister der Stadt Hamburg. Als solcher geleitete er am 29. Oktober 1888 Kaiser Wilhelm II unter Fanfarenklängen in die Speicherstadt, wo der Kaiser persönlich den Schlussstein verlegte.
Dass das Amüsement auf St. Pauli mittlerweile einen Höhepunkt erreicht hatte, spiegelt sich auch in den Sitzungsprotokollen des Vereins der 1880er Jahre.So gab esine Petition gegen eine gesetzlich verordnete Sonntagsruhe, weil „auf der Reeperbahn an den Sonntags ab drei Uhr Nachmittag mehr Geschäft gemacht, als während der ganzen Woche.“ Außerdem gab es regelmäßig Anlass zu „Besprechungen über die Unzuträglichkeiten in der Langen Reihe [damals die östliche Hälfte der Reeperbahn]“. Gemeint waren damit z. B die Nachtcafés: „das nächtliche Treiben in diesen Localen wurde von mehreren Rednern sehr drastisch geschildert und namentlich betont, dass diese verderblichen Locale vielfach die erste Ursache zu dem Untergange junger, unerfahrener Leute sei.“ Und derer gab es anscheinend genug. So monierte ein Mitglied, dass auf St. Pauli „tagtäglich Straßenkämpfe und Prügeleien zwischen Hamburger und Altonaer Schuljungen gäbe, welche oft so arg seien, daß niemand mehr passieren könne.“
Dennoch verlegte der Verein sein Clublokal im Juni 1892 von der Heinestraße 12 in das Hornhardt’sche Etablissement an den Eingang ins Vergnügungsviertel an die (heutige) Reeperbahn 1. Künftige Sitzungen fanden ab da in den Nebenräumen einer der „angesagtesten“ Lokalitäten statt, die die Stadt zu bieten hatte, ein gründerzeitlicher „Hot Spot“ des Vergnügens, untergebracht in einem prachtvollen Gebäude mit markantem Aussichtsturm, mit Ball- und Konzertsälen und einem riesigen Garten.
Am 8. August 1892 beschloss der Bürgerverein, als diesjährigen Sommerausflug eine Fahrt mit dem Dampfer nach Blankenese zu unternehmen, bei Sagebiels zuerst zu speisen und darauf ein Tanzkränzchen und abschließendes Feuerwerk folgen zu lassen. Eine Woche später brach in Hamburg die Cholera aus.Bis Ende September kostete sie mehr als 8000 Menschen das Leben. Ein Grund hierfür war das lange zögern des Senates mit der ofiziellen Bestätigung des Ausbruchs, wodurch Hilfsmaßnahme zu spät eingeleitet wurden. Am 1. Oktober 1892 rief der Verein seine Mitglieder zur außerordentlichen Versammlung. Grund hierfür war, das Wohnungen und Hausrat durch Desinfektionsmaßnahmen unbrauchbar wurden. Es mussten daher und unverzüglich Lebensmittel, Kleidung, Bettwäsche, Decken und Bargeld gesammelt und an Bedürftige verteilt werden 480 Haushalte wurden bis Anfang November mit Sach- und Geldspenden unterstützt.
Die Aktivitäten des Vereins standen auch noch im darauffolgenden Jahr unter dem Eindruck der verheerenden Choleraepidemie. Mehrfach wurde der Saal des „Concerthauses Ludwig“ für Wohltätigkeitsbälle gemietet, ein Dankesschreiben an Altona verfasst, weil das dortige Wasserwerk solange kostenlos gefiltertes Wasser nach St. Pauli lieferte, bis Hamburg selbst über sauberes Wasser verfügte. Kurz vor ihrer Fertigstellung besichtigte der St. Pauli Bürgerverein die dazu nötige Sandfilteranlage auf der Elbinsel Kaltehofe.
Über die vollständige Eingemeindung der Vorstadt St. Pauli in die Stadt Hamburg 1894 heißt es in den Protokollen recht knapp: „[...], dass die Einverleibung St. Paulis und der Vororte in die eigentliche Stadt allen Vereinsmitgliedern sympathisch zu scheint.“ Die Mitgliederzahl betrug in diesem Jahr 732.
An der Wende zum neuen Jahrhundert waren die Kämpfe um die Emanzipation der Vorstädte ausgefochten. Die Vereinsarbeit konzentrierte sich auf kommunale und soziale Aufgaben wie die Einrichtung eines Brausebades in der Davidstraße (1890), den Einsatz für den Bau einer Bahnverbindung nach Ohlsdorf und eines Kinderheimes am Paulinenplatz (1895). Auch wurden Geldspenden gesammelt, zum Beispiel für die Hinterbliebenen des Vereinsmitgliedes Henning der als Maschinist zwei Tage vor Weihnachten 1894 beim Untergang des Dampfers „Napoli“ ums Leben kam. Als der Verein sein 50. Jubiläum beging, bedankten sich viele Bewohner St. Paulis „durch äußerlichen Flaggenschmuck“ an ihren Häusern für „die Verdienste des Bürgervereins für die Vorstadt.“
Einige mögen auch die Bürgervereins-Feste als Verdienst gewertet haben, denn diese Bälle waren legendär. So tummelte sich am 11. Februar 1895 beim alljährlichen Maskenball des Bürgervereins „ein buntes, ergötzliches Gewoge verschiedenartig kostümierter Gestalten in größter Heiterkeit. Besonderes Aufsehen erregten drei Edison-Damen mit nach Gefallen in Betrieb zu setzenden Lichtern auf den Köpfen [...] und ein junger Mann, dessen Nase sogar elektrisch beleuchtet war.“ Trotz der wachsamen Augen des Festausschusses und eines sehr beschränkten (aber sehr begehrten) Kartenkontingents, waren häufig und zahlreich „kecke Käfer, den irgendein bedauerliches Missverständnis der Sittenpolizei den Aufenthalt in der schönen Alsterstadt verwehrte“ zugegen, wie ein Korrespondent des Hamburger Journals berichtete. Als „Freundinnen“ von den jungen Kaufmannssöhnen in den Ballsaal eingeschleust, brachten sie „ein solch gewaltiges Leben in die Bude, dass es begreiflich ist, wenn seinen Mitgliedern [des St. Pauli Bürgervereins] die prunkvolle Sache über den Kopf wächst.“
Der St. Pauli Bürgerverein im 20. Jahrhundert
Auf St. Pauli begann das Jahrhundert mit der feierlichen Einweihung der neuen Vereinshalle des St. Pauli Turnvereins als bislang größte Sporthalle Norddeutschlands. Seit 1895 hatte sich der St. Pauli Bürgerverein, seit 1852 eng mit dem Turnverein verbunden, für die Zuweisung eines Baugrundstückes am Heiligengeistfeld an den Turnverein eingesetzt, da deren Halle wegen einer neu geschaffenen Straße von der Feldstraße weichen musste. 1902 war „eine der besteingerichtetsten Vereinshallen“ mit Baderäumen, Bibliothek und Versammlungsaal fertiggestellt.
Zwischen 1912 und den 1920er Jahren klafft eine Lücke in der Überlieferung der Sitzungsprotokolle des St. Pauli Bürgervereins. Es lässt sich nicht sagen, ob diese in den Kriegs-, Krisen-und Umbruchszeiten zwischen 1914 und 1919 verloren gingen, nie existierten oder schlicht in den aberhunderten an Aktenseiten des 1886 gegründeten Dachverbandes „Zentralausschuss Hamburgischer Bürgervereine“ aufgegangen sind. Ein Artikel des Vorsitzenden des Zentralausschusses, Dr. Carl Albrecht, überbrückt die Lücke und stellt die Situation der Bürgervereine während des ersten Weltkrieges und nach Ende des Kaiserreiches so dar: „Der Zusammenbruch nach dem unglücklichen Kriegsende kam. Das Bürgertum – und mit ihm die Bürgervereine – die den ganzen Krieg über sich unermüdlich ihren unpolitischen Aufgaben gewidmet hatten, stand erschlafft, von einer Lethargie befallen, beiseite. [Mit der] Schaffung der sogenannten Weimarer „Verfassung“ [folgten] Währungsverfall und die Vorherrschaft der mit „geistigen Waffen“ so wunderbar bekämpften marxistischen Parteien. [...] die Bürgervereine standen [...]machtlos und einflusslos beiseite. Alle Anknüpfungsfäden mit der Vergangenheit waren zerrissen, alle Traditionen, einschließlich der ruhmgekrönten Reichsfarben, bewusst und [...] mit roher Hand über Bord geworfen“. Es folgt ein Appell an die Bürgervereine, wieder politisch tätig zu werden, und sich nicht „als [deutsche] Eiche von Moskau und seinen Anhängern fällen [zu lassen]. Auch wir Bürger und Bürgervereine erheben uns langsam wieder, wie aus einem bösen Traum erwachend-[...]- wir suchen wieder Einfluss auf die Dinge in unserer Stadt zu gewinnen.“ Albrechts Worte wurden 1928 in der „Hamburger Stimme“, dem Organ „Bürgervereins-Bewegung“ abgedruckt und können nicht repräsentativ für die politische Gesinnung der Bürgervereine stehen.Deren Mitglieder gehörten meist dem Wählerkreis der rechtsliberalen DVP Deutsche Volkspartei) oder linksliberalen DDP (Deutsche Demokratische Parteil) an. Doch ist der Artikel ein Zeugnis für den Versuch, der aus dem Mittelstand sich rekrutierenden Bürgervereine, sich in den politischen Umbruchszeiten zu positionieren.
Die Ernennung Dr. Carl Albrechts zum Ehrenmitglied des St. Pauli Bürgervereins im März 1933, mag als eine Sympathiebekundung in Richtung des NS-Regimes verstanden werden, das zwei Monate zuvor die Macht übernommen hatte. Man sei „besten Willens, der neuen Regierung Hamburgs Gefolgschaft zu leisten“, hieß es in einer Rede anlässlich des 90. Vereinsjubiläums und vermutlich entsprach dies auch der Haltung mancher Mitglieder. Es darf aber nicht vergessen werden, dass im Kontext mit dem Verbot der Parteien auch die Bürgervereine in Gefahr waren, sobald sie unter Verdacht gerieten, sich politisch zu betätigen. Die Vorstände bemühten sich deshalb klarzulegen, dass „die Bürgervereine nichts zu tun haben mit den Bestrebungen der einstigen bürgerlicher Parteien und auch keine Fortführung der selben seien“, heißt es dazu im Hamburger Correspondenten 1934. Es darf angenommen werden, dass der Bürgerverein des „kommunistisch verseuchten St. Pauli“ einen Platz weit oben auf der Liste verdächtiger Vereinigungen hatte. So betonte der Verein, dass es zu Zeiten bürgerlicher Revolution „auf St. Pauli ziemlich ruhig geblieben ist und so konnte [man] sich die vorbezeichneten Punkte [Gemeinnützigkeit, Wohltätigkeit, kommunale Angelegenheiten] zur Aufgabe stellen“, ansonsten aber „stets fern halten von allem parteimäßig gebundenen politischen Getriebe“. Mitglieder der Bürgervereine wurden aufgefordert, „die Reaktion in ihren Kreisen zu melden, [...] um die Schädlinge [...] in ihren Reihen auszumerzen. Diese Tat ist nur gutzuheißen, denn sie zeigt von dem Willen, auf dem vorgezeichneten Weg nationalsozialistischer Grundsätze weiterzugehen.“
1934 wurden die Hamburger Bürgervereine zum „Ring deutscher Heimatvereine“ (später mit dem Zusatz „Groß-Hamburg“) zusammengeschlossen, dem „Reichsbund für Volkstum und Heimat“ angegliedert und unter „einheitlicher Führung und mit einheitlichem Willen“ gleichgeschaltet. Das bedeutete: „Die Bürgervereine hatten sich in Haltung und Streben [...] der neuen Ordnung anzupassen. Jeder Einzelgänger ist Sabotage, jegliche Arbeit in Fortführung einer liberalistischen Freizügigkeit ist Reaktion“. (Hamburger Anzeiger, 1.2.1935). Tatsächlich wurden 1935 vier Bürgervereine aus Gründen der „Reaktion und liberalistischer Umtriebe“ aus dem Verbund ausgeschlossen; der Bürgerverein zu Hamburg von 1871, der Hohenfelder Bürgerverein, der Bürgerverein Bille und der Freihafen-Bürgerverein. Das gleiche Schicksal ereilte die als „Judenklubs“ titulierten Bürgervereine Harvestehude und Rotherbaum. Die Aufgabe der Bürgervereine im „Tausendjährigen Reich“ bestand nun darin, „die Volksgenossen [...] mit dem neuen Kulturgedanken, deutscher Kunst, Volkstum und Heimat vertraut zu machen“. Anstelle kommunalpolitischer Aktivitäten „wird in Zukunft die Pflege und Liebe zur angestammten oder erworbenen Heimat treten müssen.“ Zu diesem Zweck wurde aus den vereinigten Bürgervereinen der Ausschuss „niederdeutsches Hamburg“ gebildet, aus dem wiederum die Unterausschüsse „Pflege des Stadtbildes“, „Dom, Volksfeste und Märkte“ sowie einer für „allgemeine Fragen“ hervorgingen.
1936 waren die Planungen, Hamburg zu einer sogenannten „Führerstadt“ umzubauen, eines der Hauptthemen im St. Pauli Bürgerverein, da der Stadtteil von den massiven Bauvorhaben am stärksten betroffen sein würde. Eine neu angelegte Elbuferstraße sollte sich von der Neustadt über St. Pauli Süd bis zur Palmaille erstrecken, wo sie ihren Endpunkt in einem „Gauhochhaus“ haben sollte. Für den Hafen und die Landungsbrücken waren Erweiterungen angedacht, nach deren Umsetzung beispielsweise die Hafenstraße oder Pinnasberg nicht mehr existieren würden. Wie die Planungen vom Bürgerverein angenommen wurden, ist nicht überliefert. Doch scheint es, als würden dort die „glanzvollen“ Visionen eines künftigen St. Pauli nach NS- Rezeptur teilweise auf fruchtbaren Boden fallen - immerhin versprachen sie nicht enden wollende Touristenströme und damit auch gute Geschäfte. So beteiligte sich der Bürgerverein an einer Imagekampagne für ein „sauberes Vergnügungsviertel“ und veröffentlichte 1935 die Broschüre „St. Pauli wirbt!“. Initiator der Werbeoffensive war die Arbeitsgemeinschaft „St. Pauli-Große Freiheit“, ein Zusammenschluss engagierter Gaststättenbetreiber, die „ihren Beitrag“ zur geplanten „Führerstadt“ leisten wollten und aus St. Pauli „als Zentrum des großstädtischen Vergnügungsbetriebes die Visitenkarte Hamburgs.“
Der Kriegsausbruch 1939 verhinderte schließlich alle ehrgeizigen Pläne für St. Pauli – die schwerwiegendste Umgestaltung erfuhr der Stadtteil in den Bombennächten des Juli 1943. Kriegsbedingt lag auch die Arbeit der Hamburger „Heimatvereine“ brach – zu einer Wiederbelebung kam es erst nach Kriegsende: Im November 1945 traten für die Hamburger Bürgervereine die Satzungen von 1931 wieder in Kraft, die ersten Versammlungen fanden (mit Genehmigung der britischen Militärregierung) im März 1946 statt. In den darauffolgenden Jahrzehnten folgte – zum wiederholten Male – eine Phase der Neuorientierung, doch diesmal in einer heranbrechenden Zeit noch nie dagewesener Stabilität.
Für das Amüsierviertel St. Pauli waren die Jahre bis zur Währungsreform 1948 eine kurze Zeit der Prosperität, die jedoch schlagartig endete, als die Schaufenster der Warenhäuser wieder voll von langentbehrten Konsumgütern waren. Mit dem darauffolgenden Niedergang des Amüsiergewerbes ging ein Niedergang des Viertels einher – zwischen veralteten Mietskasernen und heruntergekommenen Gassen blühte zuerst der Nepp (anderer Begriff?) – und dann die Idee wieder auf, das „Elendsquartier“, wie Bürgermeister Nevermann den Stadtteil nannte, „gesund zu sanieren“ und ihm ein „sauberes“, modernes Gesicht zu verleihen.In den 1950er und -60er Jahren entstanden eine Anzahl an Bauten, die spätestens seit den 1980er Jahren als „Bausünden“ betrachtet wurden, darunter der brutalistischen Betonklotz der ehemaligen „Astra-Bowlingbahn“ am Eingang zur Reeperbahn (1965), das Millerntorhochhaus (1964) oder die Pavillonstadt am Spielbudenplatz (1967). Für St. Pauli war es mit Sicherheit eine Herausforderung, zwischen der Euphorie und dem „Mut zum Experiment“ mancher Stadtplaner und Architekten nicht seine Identität zu verlieren – St. Pauli dabei zu unterstützen, war eine Aufgabe des Bürgervereins. Man werde „aktiven Widerstand gegen die städtischen Pläne zur vollständigen Umgestaltung St. Paulis leisten“, hieß es bei der Vereinsfeier zum 125. Gründungsjubiläum.
Genau zwanzig Jahre später wurde dies eindrucksvoll unter Beweis gestellt: „Sehr geehrter Herr Bürgermeister“, begann Vereinsvorsitzender Harry Oest seinen offenen Brief, „anbei übersende ich Ihnen ca. 4000 Unterschriften von Hamburgern, die sich im Protest um Bebauungs-Spekulationen im Zusammenhang mit dem Olympia- Konzept und dem Heiligengeistfeld angeschlossen haben.(Binnen drei Tagen).[...]“ Hintergrund: Die Stadt Hamburg hatte geplant, auf dem Heiligengeistfeld einen „Sportdom“ für 12.000 Besucher zu errichten, der inklusive aller Nebenflächen mehr als die Hälfte der Fläche des Heiligengeistfeldes in Anspruch genommen hätte. „Das würde bedeuten, dass auch der Dom sich um die Hälfte verkleinern muss [...] und mindestens 1.000 Arbeitsplätze verloren gingen“ so Oest im „Hamburger Bürger“ 1988.
Im Kampf um den Erhalt des Hafenkrankenhauses [GüZi Bilder] 1997 ging der Verein einen Schritt weiter – und manches Mitglied „auf die Barrikaden“. Ihnen wurde bei der Sitzung vom 24. April seitens des Vereinsvorstandes für „den häufigen Einsatz bei den Veranstaltungen (Mahnwachen, Unterschriftensammlung)“ explizit gedankt, vor allem, da „bereits fast 5.000 Unterschriften gesammelt sind.“ Von Aktionen außerhalb des legalen Rahmens hingegen nahm man Abstand. „Herr Oest berichtete, dass sich der St. Pauli Bürgerverein in Bezug auf die Besetzung des Hafenkrankenhauses überaus korrekt verhalten hat, da weder eine Teilnahme, noch eine Befürwortung dieser Aktion stattfand“. Eine Ablehnung erwähnte Oest jedoch auch nicht.
Anders die Haltung gegenüber der autonomen Hafenstraßen-Besetzer 1987/88-die in gewisser Weise ähnliche Ziele hatte, wie die späteren Aktivisten der Hafenkrankenhaus-Proteste, nämlich den Erhalt von Infrastruktur und erschwinglichem Raum für die Stadtteil-Bewohner. Doch die Methode machte den Unterschied. Der St. Pauli Bürgerverein formulierte das so: „Im Stadtteil St. Pauli, in der Hafenstraße, gab es rechtsfreie Räume. [...]Einbrecher, Plünderer und Räuber verschanzten sich hinter Barrikaden.“
Auch die 90er Jahre waren geprägt vom Wirken des Vereinspräsidenten Harry Oest (1937-1997). Oests Lebenslauf war ungewöhnlich, denn der gelernte Maurer war offenbar ein wissbegieriger Mensch: Er absolvierte Abendstudien und ein Praktikum in Zürich, es folgten ein Studium an der Bauschule und später der Ingenieursschule in Hamburg. Die „schräge“ Seite: Der Kabarettist, Sänger und Parodist Harry Oest. Bereits in der Schweiz hatte er mit eigenem Programm auf der Bühne gestanden. 1979 reaktivierte er das Kabarett „Wendeltreppe“ – und wurde Mitglied des St. Pauli Bürgervereins, dessen ersten Vorsitz er sieben Jahre später übernahm.
Ein Höhepunkt in seiner Amtszeit war die Teilnahme an der Steubenparade 1995 in New York. Bei diesem seit 1957 jährlich im September stattfindenden Traditions-Umzug der German-Americans, vertrat er Hamburg-St. Pauli mit einem eigenen Wagen – und fuhr, zusammen mit „Hummel“, „Zitronenjette“ im „Traumschiff“ die 5th Avenue hinunter.
Als Künstler und Vorstandspräsident war Oest umtriebig und engagiert. Als Solo-Kabarettist tourte er durch Norddeutschland, gründete 1986 das „Bürgerkabarett“ und veröffentlichte 1992 seine Single „Fischkutter-Kapitän“. Harry Oest verstarb überraschend am 8. August 1997 in Hamburg. Der gesamte Dom gedachte ihm: Am 21. August „um 21 Uhr gingen [dort] für eine Minute die Lichter und die Musik aus und ein einsamer Trompeter blies einen Zapfenstreich.“
Im gleichen Jahr trat Ralph Lindenau die Nachfolge Harry Oests als Vorsitzender des St. Pauli Bürgervereins an. Elf Jahre lang leitete er dessen Geschicke, 2018 legte er das Amt nieder.Im gleichen Jahr trat Dieter Lohberger an seine Stelle. Vermutlich für beide keine leichte Amtszeit, denn in dieser Phase war der Verein zunehmend aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die zahlreichen Initiativen haben viele soziale und kommunale Aufgaben übernommen – das Interesse an einer Bürgerbeteiligung über einen festen Verein schwand zunehmend.
Seit einigen Jahren wurde es wieder „lauter“ um den St. Pauli Bürgerverein, der Projekten wie „Schöne Tage“ oder dem „St. Paulus Tag“ soziale und kulturelle Schwerpunkte setzt – und damit seit mehr als 175 Jahren seinen Statuten ungebrochen verbunden geblieben ist.
Quellen und Literatur
Eckhardt, Hans Wilhelm: Von der privilegierten Herrschaft zur parlamentarischen Demokratie.
Evans, Richard: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910. Oxford, 1996.
Decker, Eva, Schilling, Jörg: Beim Trichter. Reeperbahn 1. Bauheft o8, Hamburg, 2014.
Festschrift: 25 jähriges Stiftungs-Fest des Hamburg-St. Pauli Turnvereins. Hamburg, 1884. S. 4.
Heyden, Wilhelm: Die Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft. 1859-1862.Hamburg, 1909. S. 74.
Hubatsch, Walther: Die erste deutsche Flotte 1848-1853. Bonn, 1981. S. 128ff.
Klodt, Rudolf: Der Schleswig-Holsteinische Traum. Das Schicksal der Blankeneser Gefallenen während der Erhebung der Schleswig-Holsteiner gegen Dänemark 1848-1851.Norderstedt, 2015. S. 109.
Schäfer, Udo: Die Hamburgische Verfassung von 1860. Wegemarke des Verfassungswandels zwischen 1712 und 1921.
Siebzig Jahre Dienst am Volke. (Zum 70. Jubiläum des St. Pauli Turnvereins). In: Hamburger Anzeiger, 1.April 1932.
Schulte-Varendorff, Uwe: Die Hungerunruhen in Hamburg 1919 – eine zweite Revolution? Hamburg, 2010.
Weidmann, Michael: Bürgervereine in Hamburg und ihre Geschichte. www.buergervereine-in-hamburg.de, abgerufen am 8.12.2018
Wohlwill, Adolf: Johannes Versmann. Zur Geschichte seiner Jugendjahre und seiner späteren Wirksamkeit. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd. XV, Zweites Schlussheft. Hamburg, 1910 S. 165ff.
Zeitungsartikel:
Altonaer Nachrichten, 28.10.1983
Berliner Tageblatt, 24.11.1936
Die Welt, 15.3.1968
Hamburger Anzeiger, 13.3. 1933, 8.2.1935, sowie 7.2.1936
Hamburger Fremdenblatt, 13. 3. 1933
Hamburger Nachrichten, 8. 4. 1933
Hamburgischer Correspondent, 26.1.1934 sowie 19.1.1937
Hamburger Tageblatt, 17.1.1935, 4.11.1936, 13.1.1937 sowie 22.6.1937
Vereinsmitteilung Bürgerverein zu Hamburg 1871, 7.7.1938
Internet:
St. Pauli Bürgerverein: www.stpauli-buergerverein.de, abgerufen am 11.12.2018
Verband deutscher Bürgervereine: www.vd-buergervereine.de, abgerufen am 11.12.2018
Zentralausschuss Hamburgischer Bürgervereine von 1886 r.V: www.za-hamburg.de, abgerufen am 11.12.2018.
Bestände im Staatsarchiv Hamburg:
411-2_II (Patronat St. Pauli), C 5815
331-3_BV 11 (politische Polizei), Bd.1-3
731-8_A 507 (Zeitungsausschnittsammlung) St. Pauli
Archiv des St. Pauli Bürgervereins:
Protokolle der Jahreshauptversammlung, 1988-1998
Hamburger Bürger, Jg. 1984-1987Nr.10, Oktober/November 1987.
Die Bürger-Zeitung, Jg. 1990-95
St. Paulianer, Jg.